Vernachlässigbare Menschen?

Neben den bereits angesprochenen Problemen mit dem neuen Leipziger Semesterticket wurden im Fediverse zuletzt weitere Gesichtspunkte diskutiert. Insbesondere gehen mit dem neuen Semesterticket deutliche Nachteile für Studierende mit Kindern einher.

Während bisher bis zu drei Kinder unter vierzehn Jahren im Stadtgebiet mitgenommen werden konnten, fällt die Möglichkeit ab dem Sommersemester komplett weg. Es bleibt bei der kostenfreien Beförderung von Kindern unter sechs Jahren, aber das ist keine Errungenschaft des Semestertickets. Diese werden ohnehin von nahezu allen öffentlichen Nahverkehrsunternehmen kostenfrei befördert. Für ältere Kinder kann man sich auf eigene Kosten einen Mitnahmebaustein buchen, der aber nur bei flüchtiger Betrachtung nützlich ist, da er nur ab 17 Uhr und am Wochenende gültig ist. Damit ist er nahezu unbrauchbar nicht nur für naheliegende Wege wie den Schulweg, sondern auch für die Nutzung verschiedener Angebote, die im Hochschulzusammenhang bisher speziell für Kinder von Studierenden vorgesehen waren, so etwa die Speisenversorgung in den Mensen oder die Teilnahme am Hochschulsport. Fragt man beim Studentenwerk nach, wird man darauf verwiesen, dass man bei den Verkehrsbetrieben das Bildungsticket buchen kann. Das bedeutet Kosten von 15 EUR pro Monat und Kind, und erfordert eine Abo-Bindung von mindestens einem Jahr. Will man die nicht, muss man wiederum auf teurere Angebote zurückgreifen.

Man könnte sich jetzt fragen, wie das übersehen werden konnte, nachdem der Hochschulstandort Leipzig bisher als familienfreundlich galt. Erst am 26. September 2023 hatte der Studierendenrat sich laut Beschlussdatenbank unter anderem dafür ausgesprochen, dass die zusätzlichen Vorteile bestehender Semestertickets erhalten bleiben sollten. Klarheit bringt ein Blick ins Protokoll (leider nur hochschulöffentlich). Hier wurde ausdrücklich nach den bisherigen Vorteilen gefragt. Eine Person aus dem Mobilitätsreferat sprach hierzu von “vernachlässigbaren Änderungen”, worauf die Änderung dann ohne weitere Diskussion über die Kindermitnahme beschlossen wurde.

Aber was bedeutet in diesem Zusammenhang “vernachlässigbar”? Um die finanzielle Belastung der betroffenen Studierenden wird es hier wohl nicht gegangen sein, denn diese steigt (bei Bereitschaft zur einjährigen Vertragsbindung) von monatlich bisher 29,14 EUR auf bis zu 74,40 EUR, wenn man die gleichen Möglichkeiten nutzen können will. Naheliegender scheint hier die Folgerung, dass die Person damit ausdrücken wollte, dass sie die Studierenden mit Kindern für eine vernachlässigbare Personengruppe hält.

Während also der Studierendenrat Auslese betreibt, hier als Gegenmodell:

*Kein Mensch ist vernachlässigbar* Kein Mensch ist vernachlässigbar

Dies auch als Zeichen der Solidarität mit den Studierenden in Berlin. Hier hat die Studierendenvertretung ebenfalls entschieden, eine Minderheit zu opfern, die man womöglich für “vernachlässigbar” hielt: Promovierende erhalten hier plötzlich kein Semesterticket mehr, und sollen je nach Hochschule zunächst trotzdem dafür bezahlen.

Es ist nicht zielführend, hier die Verantwortung bei den Verkehrsunternehmen zu suchen. Letztlich liegt es bei der Studierendenvertretung oder dem Studierendenwerk, solche Verträge zu unterzeichnen, oder aber den Verkehrsunternehmen zu signalisieren, dass das erst in Frage kommt, wenn die Bedingungen den Bedürfnissen der Studierendenschaft entsprechen.

Als Studierende mit Kindern, die aus Sicht ihrer sogenannten Studierendenvertretung als “vernachlässigbar” betrachtet werden und die daher nicht damit rechnen können, bei Entscheidungen berücksichtigt zu werden, bleibt derzeit nur die Möglichkeit, auf anderem Wege darauf hinzuwirken, dass ein Umdenken stattfindet. Dazu kann Widerspruch eingelegt werden mit dem bereits bereitgestellten Musterschreiben, auch wenn dies noch nicht die fehlende Berücksichtigung der Studierenden mit Kindern problematisiert. Ggf. kann in Zukunft auch noch ein Musterschreiben bereitgestellt werden, das auch auf dieses Problem eingeht (Textvorschläge willkommen).

Update 29. September: Ein aktualisiertes Musterschreiben ist online

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